Mittwoch, 15. August 2012

Bernat und der Doppeltraum

Als er eines Tages von seinem üblichen Weg abwich, kam Bernat an einem alten Haus vorbei. Dieses Haus erregte sein Aufsehen, da es frisch rosa gestrichen war, die Tür- und Fensterrahmen allerdings lila.
Über der Tür hing ein weißes blumengeschmücktes Plakat, auf dem stand: „Wir deuten deine Träume, wie sie echt gewesen, individuell, nach deinem Wesen.“

Im Haus waren zwei Feen, die das Traumdeutungsgeschäft führten, Gemma und Esperança. Sie bereiteten das Einweihungsfest der Praxis vor. Gemma korrigierte die Plakate, während Esperança damit beschäftigt war, eine Regal vom Dachboden herunterzutragen. „Espe, warte, ich helfe dir!“ sagte Gemma. Espe antwortete: „Lass mal, das kann ich allein.“ Darauf hörte man den Lärm eines großen Gegenstandes, das die Treppe herunterpolterte. „Doch, Gemma. Ich brauche Hilfe. Seit ich mir letzte Woche das Schlüsselbein brach, fällt mir alles schwerer.“ - „Ach, Espe, du musst dich schonen!“ - „Alle sagen mir das, aber die Arbeit erledigt sich nicht von allein. Bis morgen schaffen wir das nie. Das wird eine schäbige Einweihungsfeier.“

Bernat, von dem Plakat angelockt, betrat das Haus.
„Guten Morgen, ich bin Gemma.“ sagte die bebrillte Fee. „Wie kann ich dir helfen?“ - „Ihr versteht etwas von Träumen? … Aber die Praxis ist ja noch gar nicht geöffnet.“ - „Doch, doch, wir haben schon auf. Hattest du einen Traum, den du nicht verstehst?“
Bernat sagte: „Ich habe nicht nur einen Traum, den ich nicht verstehe, sondern es handelt sich um einen Dopeltraum, den ich nicht zu deuten vermag.“
Espe sagte: „Dann leg mal los!“ - „Aber kostest mich das Geld?“ fragte Bernat besorgt. „Das Geld ist nicht so wichtig.“ lächelte Gemma, „Nun fang schon an, erzähl uns deinen Doppeltraum.“

Bernat beginnt: „Es ist ein heißer Tag, am Morgen. Ich bin in dem Büro einer Firma, die ich vor über zehn Jahren verließ, da sie in Zahlungsschwierigkeiten kam.“ - Gemma murmelte unverständliche Worte, die nicht freundlich klangen. - „Ich weiß nicht wieso, aber ich habe noch ein paar Sachen im Büro, die ich holen will. Ich sehe mich an meinem Schreibtisch, aus dem ich Bücher, Kugelschreiber Papiere und … einen Spielzeuglaster fische.“
Im Traum bin ich die Ruhe selbst. Logisch, denn ich habe ja schon eine andere Arbeit und hole nur meine Sachen aus meiner alten Firma.
Meine Ex-Kollegen hingegen sind nicht ruhig, da ja ihre Firma schließt. Ich nehme nicht nur meine Papiere an mich, sondern entnehme auch eine Packung Bratwürste aus dem Firmenkühlschrank. Sie gehöre eindeutig nicht mir.
Zwei Ex-Kollegen, Héctor und Elvira, fragen mich, ob es wirklich meine seien. Ich behaupte steif und fest, dass sie mir gehören, und stecke sie in meinen Rucksack.
Ich treffe auch noch eine ehemalige Mitschülerin (die in Wirklichkeit nie in dieser Firma gearbeitet hat) und ich frage sie, wie es ihr jetzt geht, wo die Firma schließt. Sie meint, das könne ich mir ja wohl vorstellen und macht ein ernstes Gesicht.“
- „Das ist doch kein Doppeltraum.“ sagt Espe.
„Warts ab, jetzt kommt der zweite Teil: Ich bin in Norddeutschland auf Urlaub (ich habe dort Verwandte), und es ist heiß. Es ist die gleiche Hitze wie im Haupttraum. Wir wollen mit der ganzen Familie im See baden. Im Fernsehen kündigen sie Gewitter über ganz Deutschland ab dem Morgen an. Nur die Region, wo wir uns befinden, erreichen die Wolken erst pünktlich um 20:00. Ich sehe diese Wetterkarte ganz klar vor meinen Augen. Ganz Deutschland von schwarzen Wolken bedeckt, nur über Ostholstein scheint die Sonne. So.“ Bernat ergreift einen Kugelschreiber und zeichnet die Ostseeküste und die Wetterfront.
„Ich bin sehr glücklich, dass ich noch Zeit zum Baden habe. Vorher muss ich aber noch ein paar Sachen aus meinem Alten Büro holen...“

„Was meint ihr?“ fragte Bernat. „Ziemlich hübsch“ bemerkte Esperança. - „Aber was bedeutet mein Traum? Meine jetzige Firma durchläuft gerade eine schwierige Lage. Für mich ist der Traum hoffnungsvoll: Ein Gewitter zieht auf, aber es schient als könnte ich mich rechtzeitig retten, oder?“
Gemma antwortete: „Die Träume enthüllen nie die Zukunft, sondern sie sagen nur, was du selbst denkst. Und um dir die Wahrheit zu sagen, du kommst nicht besonders gut dabei weg. Du bist arrogant und eingebildet, denn du hältst dich für besser als die anderen, du glaubst, du seist schlauer und kämest besser durch die Krise als deine Kollegen. Noch dazu bestiehlst du sie und leugnest es. Bist du wirklich so?“
Bernat wurde bleich: „Das denkst du wirklich? Und das ist alles?“ - „Nein, aber wenn du willst, machen wir dir eine tiefere Analyse und geben dir 40% Rabatt.“ Bernat antwortete: „Nein danke, die Kurzanalyse reicht mir schon. Vielen Dank und bis zu einem anderen Traum.“ Und er drehte sich zur Tür.
„Moment mal“, sagte Esperança. „Du musst noch Gemmas Kurzanalyse bezahlen.“ - „Wie??? Aber ihr habt doch selbst gesagt, Geld sei nicht wichtig und euch interessiere nur der Traum.“ - „Nun gut, kein Geld. Aber du siehst ja, wie es hier aussieht, siehst du das Regal auf dem Boden? Es braucht einen starken Mann, der es dorthin bringt, wo es hingehört.“ - „Aber, aber ...“ stammelte Bernat.“ - „Vorwärts! Weniger träumen und mehr arbeiten!“ befahl Esperança. Und Gemma verriegelte die Tür.
Zehn Stunden später war das Büro sauber, geschmückt und bereit für die Einweihungsfeier, 121 pralle Luftballons hingen von der Decke. Die Feen entließen Bernat, der nach Hause ging, wie tot ins Bett fiel und sofort in einen tiefen traumlosen Schlaf versank.

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